Leere Konservendose mit Stern, die zwischen zwei Zahnräder fällt

Problematische Zeitungen in der SKF

Vor ein paar Tagen veröffentlichten einige Hamburger Gruppen eine Stellungnahme zu  Vorkommnissen bei denen unter anarchistischer Flagge problematische Äußerungen getätigt wurden.

Wir haben das Statement zwar als Gruppe nicht unterzeichnet, teilen aber die inhaltliche Kritik an sozialdarwinistischen und ableistischen Thesen in den Magazinen.

Auch bei uns lagen einige Ausgaben des „Zündlumpen“ und der „In der Tat“ in der Auslage, ob es sich um die entsprechenden Ausgaben handelt, können wir leider nicht mehr nachvollziehen, können es aber nicht ausschließen.  Wir bedauern sehr, dass wir Zeitungen mit solchen Aussagen ausgelegt haben, das hätte nicht passieren sollen. Wir halten es deshalb für wichtig dies wenigstens im Nachhinein transparent zu machen und das Statement zu teilen, auch ohne es zu unterzeichnen.

Das Statement findet ihr im Original auf Indymedia, da Indymedia aber teilweise schwer zu erreichen ist, haben wir das Statement unten nochmal angehängt.

 

 

Denn sie wissen, was sie tun

Gerade während einer weltweiten Pandemie ist die Notwendigkeit von Solidarität und Verantwortung besonders groß. Insbesondere Anarchist*innen sollten diese Werte ohnehin in ihrem Selbstverständnis verinnerlicht haben. Leider lesen und sehen wir dieser Tage aber immer wieder Texte, Graffiti und Plakate von Leuten, die meinen, Anarchist*innen zu sein, aber leider nicht zu wissen scheinen, was dieser Begriff eigentlich bedeutet1. Deshalb aus anarchistischer Sicht einige Gedanken zu den Vorkommnissen.

Als Beispiele seien hier aufgeführt die „anarchistische“ Zeitung Zündlumpen, die Plakate „Anarchie statt Plandemie“ in Hamburg und ein Graffito an einem Hamburger Pflegeheim sowie ein Beispiel aus der „In der Tat“ Nr. 7.

Grafitto „I´d rather die of corona than live in a social coma“

Graffito "I'd rather die of corona than live in a social coma"

An ein Pflegeheim in Hamburg-Harburg wurde der Slogan „I´d rather die of corona than live in a social coma“ nebst Anarchiezeichen gesprayt. Wenn das Graffito nicht von den Pflegeheimbewohner*Innen selbst kommt, dann ist es mindestens geschmacklos. Als Anarchist*in, pflegebedürftigen Menschen vorzuschlagen, doch lieber zu sterben, als „social distancing“ zu betreiben, zeugt nicht davon, den Wert von Menschenleben schätzen zu können und akzeptiert auch nicht die Entscheidung vieler pflegebedürftiger Personen, nach Möglichkeit Ihre Kontakte bis zu einer Impfung zu reduzieren, um überhaupt zu überleben.

Zündlumpen

Während die Zündlumpen früher zumindest manchmal noch mehr oder weniger spannende Beiträge zum anarchistischen Diskurs geliefert haben, haben sie sich mittlerweile leider aus dem Spektrum der ernstzunehmenden Projekte verabschiedet.

Die Werte, die mittlerweile in dieser Zeitung vertreten werden, lassen nur den Schluss zu, dass Sozialdarwinismus und Egoismus über ur-anarchistische Werte, wie Solidarität, Respekt und gegenseitige Hilfe gestellt werden.

Hier wollen wir nur auf ein besonderes „Highlight“ eingehen:

Wenn es bestimmt einer „Risikogruppe“ zugeordnete Leute gibt, welche ihr – real oder mögliches – gering statistisch erhöhtes Sterberisiko derart über sämtliche Bedürfnisse aller anderen stellen, dass sie denken, um dieses zu mindern, gehöre die halbe Menschheit, wenn nicht sogar die ganze, eingesperrt… nun, solche Leute mag es geben. Aber sie haben zumindest eins auf die Fresse verdient, auch wenn man davon absehen mag – angesichts ihres schwächelnden Zustands. Sie könnten doch auch einfach einfordern, von anderen bei ihrer Selbstquarantäne unterstützt zu werden. Aber ja, es gibt eben nicht nur solche, welche die leichte Verlängerung ihres wahrscheinlich ohnehin schon leidvollen Lebens über die Freiheit – und sei es nur die gestrige, lächerliche Freiheit in der Demokratie – aller anderen stellen. Es gibt zumindest auch kranke, schwache, lungengeschädigte, alte, etc. Menschen, welche nicht komplett spinnen und verstehen, dass ihr Sterben – wobei dieser Prozess ja bei den meisten „Risikogruppen“-Zugehörigen ohnehin schon begonnen hat – nicht dazu herhalten sollte, alle zuhause einzusperren und die menschliche Zivilisation in ein riesiges Lager zu verwandeln“.2

Dieser Text kann nur von Leuten geschrieben und veröffentlicht worden sein, die kein Problem damit haben, ihren Egoismus auf den Rücken von Kranken und Schwachen auszuleben. Wer behauptet, die Leute, die einer Risikogruppe angehören und ein Mindestmaß an Solidarität von der Gesellschaft einfordern, hätten „eins auf die Fresse verdient“, hat offensichtlich die Grundlagen des solidarischen Zusammenlebens, geschweige denn einer anarchistischen Weltanschauung, nicht verstanden.

Die Bewertung von anderem Leben als „wahrscheinlich ohnehin schon leidvoll“ und der darauffolgenden Forderung, dass die Gesellschaft doch bitte ohne Rücksicht auf diese ihre Freiheiten ausleben soll, dass das Leben der Alten und Schwachen also so wenig Wert ist, dass sie ruhig sterben können, damit der Rest keine Rücksicht auf sie nehmen muss, erinnert schnell an Euthanasie-Programme der Nazis.

Plakate „Anarchie statt Plandemie“

Mehr als ein Mal mussten wir leider auch unter dem Label des Anarchismus die Verschwörungstheorie vernehmen, dass es sich bei dem Virus nicht um ein natürliches Phänomen handelt, sondern um etwas, was von „den Herrschenden aka die da oben aka den geheimen Mächten“ geplant und inszeniert worden ist.

Mal dahingestellt, ob Anarchismus links ist oder nicht, auf jeden Fall ist er nicht rechts. Und wer die Querdenker etc. rechtfertigt oder sich durch Plakate auf eine Verschwörungsstufe mit ihnen stellt, macht sich mit Rechten gemein. Querfront war noch nie anarchistisch und wird es auch nie sein.

In der Tat

Auch die Zeitschrift „In der Tat“ ist leider nicht frei von Verschwörungstheorien. In der Nr. 7 fanden wir z.B. den Text „Asymmetrisch“.3 Dort wird die Ansicht vertreten, die „Krise“ sei aus dem Boden gestampft, der Virus folge gewissermaßen einem Plan, bzw. einer Strategie. Die Herrschenden/Mächtigen/Wer auch immer hätten den europäischen Teil der Pandemie bewusst in Italien gestartet: „Meines Erachtens nach ist es kein Zufall, dass der europäische Teil der Pandemie gerade in Italien „seinen Anfang nahm“. Im Nachhinein gesehen stellt der italienische Staat die richtigen Voraussetzungen bereit für die durchzusetzenden Maßnahmen – die Bildung ist schon lange heruntergefahren worden und die Medien laufen schon lange Hand in Hand mit der Regierung und der Polizei, um nur zwei Punkte zu nennen – und konnte demnach gut als Blaupause für das nunmehr europäische Modell dienen.“ Die einzige Interpretation, die da verbleibt, ist die, dass irgendwer-da-oben gezielt eine Pandemie lenken würde, um seine Ziele zu erreichen. Das ist ungefähr so realistisch wie die Theorien der „Querdenker“, die behaupten Bill Gates hätte den Virus in die Welt gesetzt, um der Weltbevölkerung Mikrochips zu implantieren.

Für uns ist ganz klar, dass eine solche Sichtweise dem anarchistischen Kampf zuwiderläuft. Um glaubwürdig zu bleiben und sich nicht lächerlich zu machen, sollten wir uns als Anarchist*innen an die Realität und die Tatsachen halten und keine absurden Verschwörungstheorien in die Welt setzen, nur weil es auf den ersten Blick praktisch ist, alles auf „die da oben“ zu schieben.

Was bleibt?

Wäre es nur dumm, wäre es noch egal. Aber es ist mehr als das. Es ist gefährlich, unsolidarisch und ignorant. Anarchismus impliziert auch, jede Form von Sozialdarwinismus und Ableismus abzulehnen und seine Revolution ganz sicher nicht auf den Rücken der alten und kranken Menschen aufzubauen. Mit Leuten, die diese Grundsätze nicht begriffen haben oder nicht begreifen wollen, kann man als Anarchist*in nicht unter einer Fahne laufen.

Der Staat ist zu jeder Zeit in all seinen Formen abzulehnen. Darüber müssen wir (hoffentlich) nicht mehr reden. Die überwiegend notwendigen Maßnahmen und Einschränkungen aber nur deshalb abzulehnen, weil auch der Staat sie für notwendig hält, ist deutlich zu einfach.

Vielmehr sollten wir als Anarchist*innen versuchen, einander zu unterstützen, für ein solidarisches, selbstorganisiertes Gesundheitswesen kämpfen und selbstverständlich die staatlichen Auswüchse die tatsächlich nur zur Kontrolle der Bevölkerung und nicht zur Eindämmung des Virus´ führen bekämpfen. Der Staat und mit ihm der Kapitalismus versuchen selbstverständlich aus jeder Situation, auch aus dieser, gestärkt hervorzugehen. Diesen Anspruch sollten wir auch haben.

Für die Freiheit! Für die Anarchie!

Abschließend soll gesagt werden, dass wir als Anarchist*innen uns von solchen Äußerungen und solchem Gedankengut klar distanzieren und dazu aufrufen, den Verursacher*innen dieser pseudoanarchistischen Absonderlichkeiten keinen Raum zu geben:

1 Damit wollen wir natürlich nicht sagen, dass wir die alleinige Interpretationshoheit darüber beanspruchen, was Anarchismus bedeutet.

2 Bei Interesse (nicht zu empfehlen): Zündlumpen, 15.04.2020, https://zuendlumpen.noblogs.org/post/2020/04/15/tod-den-statistikern/

3 Wir würden Euch auch hier gerne einen Link präsentieren, allerdings ist die „In der Tat“ in einem Maße technik-feindlich, dass sie es nicht über sich bringt, ihre Publikation im Internet einem möglichst breiten Publikum zur Verfügung zu stellen. Aber vielleicht ist das auch nicht weiter schlimm.