Ein Plädoyer für Staatskritik, aber kein Bündnis mit Rechtsaußen!

Querdenken; laterales Denken: diese Begriffe bezeichnen eine Tradition des Hinterfragens von gefestigten Normen und Handlungsanleitungen. 

Der Anspruch dieses Ansatzes wurde die letzten Monate ad absurdum geführt. In ganz Deutschland sind Gruppen die sich das Label der Querdenker*Innen auf den Aluhut schreiben aufgetaucht und haben die Kritik an dem Staat, in dem sie leben, für sich entdeckt.  Auf dem ersten Blick scheint dies angebracht: Es gibt genug zu beanstanden.

Doch was wird beanstandet und welche Schlussfolgerungen trifft die Querdenken-Bewegung?

Das Ziel der Proteste sind die Maßnahmen, welche von den Regierungsbeauftragten zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf uns niedergelassen wurden. Aber nicht konkrete Maßnahmen und ihre Funktionen werden kritisiert, sondern alle zusammen, der ganze Maßnahmenpudding, inklusive Abstandhalten und Masketragen, wird von den Querdenker*innen abgelehnt, gleichwohl sie wissenschaftlich als wirksam bewiesen wurden.

Sie werden sie alle als unverhältnismäßig, übertrieben und diktatorisch bezeichnet. Es wird verlangt jetzt mal nen Schlussstrich zu machen und wieder zur schon nostalgischen Normalität zurückzukehren.

Diese Forderung nimmt bewusst in Kauf, dass zig tausende Menschen täglich sterben – der Freiheit Einzelner wegen.

Als Grundlage werden meist immer dieselben Ausschnitte aus dem Grundgesetz der BRD zitiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“(Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art 1(1)). Impliziert wird hier, dass die Würde der Querdenker*Innen von den bestehenden Maßnahmen zur Beherrschung der Pandemie verletzt wird. Doch mit den Protesten, welche häufig ohne Maske und Abstand statt finden, wird vielmehr die Würde von anderen Menschen verletzt sowie ihr Recht zur körperlichen Unversehrtheit missachtet. Ganz bewusst und mit der absoluten Sicherheit hier richtig zu handeln, wird das eigene Recht auf Freizügigkeit während einer Pandemie über alle anderen Rechte gestellt. Totalitärer Egoismus.

Um diesen moralischen Widerspruch zu erklären, radikalisiert sich die Querdenken-Bewegung im  Glauben, dass eine geheime Elite das Virus in die Welt gesetzt hab und dass die Bürger sowie Staatsbedienstete zu Marionetten wurden. Die Hintergründe realer Verhältnise werden zum Mythos.

Dieser Glaube folgt dem alten antisemitischen Narrativ über eine jüdische Weltverschwörung, welches von der Querdenker*Innen reproduziert und damit verstärkt wird.

Zugleich entstand die auf Querdenken-Demos vollständig unwidersprochene Situation, dass die Coronaleugner*innen einerseits Jüd*Innen als Täter*Innen identifizierten und andererseits sich selbst mit Holocaustopfern verglichen. Von Anfang an waren bei den Demonstrationen gelbe „Judensterne“ in Anlehnung an die NS-Zeit zu sehen. Der Appell der Regierenden möglichst zu Hause zu bleiben, wurde mit der Situation in den 1940er Jahren gleichgesetzt, in der Juden sich verstecken mussten, um ihr Leben zu retten.

Reale Verwerfungen unseres ökonomischen Systems wurden und werden nicht angezweifelt, sondern zur gesteuerten Verschwörung erklärt. 

Allen Reichsbürger*Innen, Neonazis, Q-Anons oder Attila Hildmans wurde mit dem gezielten Wiederholen und Weiterleiten weltverschwörerischer Inhalte sowohl in verschiedenen Chatgruppen im Internet, auf Videoplattformen sowie auf allen sozialen Medien immer wieder eine Bühne geboten. Der Mythos hat reale Folgen:

So gründeten sich bis Ende des letzten Jahres knapp 70 Ableger der Querdenken-Bewegungen in allen Teilen Deutschlands, welche zur Verbreitung der Verschwörungsideologien aufriefen.

Die gesamte Bewegung zeigt sich offen für Reichsbürger*innen, NPD-, AfD- und Nazikader und wird teils auch gegen ihren Willen von diesen vereinnahmt, in dem von rechtsextremistischen Gruppen einerseits Aufrufe zu Querdenken-Versammlungen aufgerufen wird, andererseits indem sich einschlägige Personen des rechtsextremen, identitären und völkisch-nationalen Spektrums auf Querdenken-Demos blicken lassen.

 

Neueste Masche des Querdenken-Ablegers in Hamburg ​​​​​​​ ist das Aufrufen zu dezentralen Autokorsos („Freiheitsfahrer“), welche im Schutz der Polizei in wechselnden Stadtteilen die absurden Inhalte per Lautsprecherwagen verbreiten und aktiv zur Mitarbeit anwerben.

Ein kritisches Hinterfragen der Maßnahmen ist notwendig, darf aber nicht auf dem Rücken der Menschen die von der Pandemie betroffen sind und schon gar nicht als Teil von antisemitischen Schuldzuweisungen einer Weltverschwörung stattfinden.

Dank des Internets und grundlegender Menschen- und Versammlungsrechte, die auch während der Pandemie gelten, leben wir in einem Verhältnis des ständigen Austauschs miteinander. Wir sind voneinander abhängig. Wir brauchen einander.

Der Staat und das Handeln seiner Funktionträger*Innen muss kritisch hinterfragt werden. Zustände müssen nicht in ihrer unbewusst oder bewusst erschaffenen Normalität als in Stein gemeißelt angenommen werden. Diese Zustände werden tagtäglich von uns erhalten und reproduziert. Wir haben dennoch Handlungsmacht diese zu ändern.

Es sind keine Zustände, die sich in der Pandemie entwickelt haben, denn die Auswirkungen einer auf Ausbeutung und Profitgier bestehenden Gesellschaft zeigen sich seit Jahrhunderten und sind das eigentliche Problem. Nach nun über einem Jahr Pandemie hat sich eines gezeigt: Die Art wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist, welche Menschen tagtäglich den Laden am Laufen halten. Menschen und deren Arbeit, die wir sonst im Alltag nicht wahrnehmen.
​​​​​Es sind die Supermarktkassierer*In, die Pflegekraft, die Reinigungskräfte, die Spargelstecher*Innen, die Pädagog*Innen und Erzieher*Innen. Sie schaffen die Voraussetzungen, die Infrastruktur auf die wir uns verlassen, welche wir zum Leben brauchen. Es sind diese Arbeiten die von Menschen gemacht werden müssen. Überwiegend von Frauen* die oft schlecht bezahlt werden und/oder prekäre Aufenthaltsverhältnisse in Deutschland haben. Eine muss halt die Drecksarbeit machen, Pech gehabt. Es geht um einen Staat dessen Regierungsmitglieder und Parlamentsmitglieder bei dem Wort „Umverteilung“ den Kommunismus heraufbeschworen sehen, aber dabei keinen Widerspruch bei der Sozialisierung von Firmenschulden sehen. Die so genannte Normalität und die Auslegung der Grundrechte, welche Querdenken einfordert, sind eben solche, die zu der jetzigen Situation der Pandemie geführt haben.

Die Frage lautet deshalb: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?